In der EU stellen immer mehr Hersteller und Importeure ihre Vertriebssysteme von Händlerverträgen auf so genannte «Agenturverträge» um.
Es ist davon auszugehen, dass die Hersteller bzw. Importeure früher oder später auch die Vertriebssysteme in der Schweiz umstellen.
Für Händler ist eine Umstellung mit wirtschaftlichen Risiken aber auch Chancen verbunden. Entscheidend für die Händler sind die Verhandlungen mit Herstellern zur Ausgestaltung des Vertriebssystems.
Die kartellrechtlichen Rahmenbedingungen eines Agentursystems wurden bisher weder in der Schweiz noch in Deutschland systematisch untersucht. Der AGVS und die in der Markenkommission vereinigten Markenhändlerverbände haben dazu ein umfassendes Rechtsgutachten erstellen lassen.
Gutachten: Orientierungshilfe für Händler (PDF)
Für die Schweizer Kfz-Vertriebspartner von Markengaragen wird es im Hinblick auf die wichtigen Vertragsverhandlungen zu neuen Händlerverträgen unumgänglich sein, die kartellrechtlichen Rahmenbedingungen zu kennen, um ihre Interessen bestmöglich durchsetzen zu können. Das Gutachten soll dabei als pragmatische Orientierungshilfe dienen.
Die Vertikal-GVO der EU-Kommission ist entscheidend für die Unterscheidung zwischen echter und unechter Agentur. Die Vertikal-GVO wurde Mitte 2022 revidiert (neue Rechtsetzung). Dies bedeutet, dass das Gutachten der aktuellen Rechtssetzung folgt, gleichzeitig noch keine etablierte Rechtsprechung besteht.
Gestützt auf die neue Vertikal-GVO hat die Wettbewerbskommission die CH-Vertikalbekanntmachung im Dezember 2022 angepasst. Die revidierte Vertikalbekanntmachung der Weko orientiert sich – mit wenigen Ausnahmen – an der Vertikal-GVO. Wie für das EU-Recht heisst dies: eine aktuelle Praxis besteht nicht.
Das Agentursystem war (soweit ersichtlich) bisher nicht Gegenstand von Gerichtsverfahren. Gerichtliche Urteile, welche die kartellrechtlichen Rahmenbedingungen konkret im Bereich der Agentur im Kfz-Handel zumindest teilweise präzisieren, sind nicht vorhanden.
Die Gutachter beginnen im Bereich der Agentur im Kfz-Vertrieb «auf der grünen Wiese». Denn weder in der Schweiz noch in Deutschland bestehen rechtliche Analysen, Gutachten oder andere (wissenschaftliche) Papers, auf welche zurückgegriffen werden kann.
Vertragsmuster zu Agenturverträgen konnten trotz Bemühungen (des AGVS und der Gutachter) nicht erhältlich gemacht werden. Untersucht werden somit die wesentlichen Befürchtungen und Kritiken gemäss Berichten aus der Branche.
Das Gutachten soll einerseits den AGVS-Mitgliedern eine praktische Orientierungshilfe bieten und andererseits den Ansprüchen eines wissenschaftlichen Gutachtens genügen. Neben dem (wissenschaftlichen) Gutachten gibt es daher einen praxisorientierten Teil, welcher die wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammenfasst (Kapitel 6. des Gutachtens).
Das Gutachten soll allen AGVS-Markenmitgliedern eine gleichsam wertvolle Orientierungshilfe für kommende Verhandlungen mit dem Hersteller bieten.
Es ist daher als Branchengutachten zu verstehen, das eine gewisse Allgemeingültigkeit beibehalten muss. Dies bedeutet: Ziel des Gutachtens kann es nicht sein, abschliessend festzulegen, was Hersteller genau dürfen und was nicht, sondern vielmehr die Grenzen bzw. den Handlungsspielraum aufzuzeigen, innerhalb welcher die Hersteller sich bewegen dürfen.
Ob ein konkretes Verhalten / eine Vertragsklausel zulässig oder unzulässig ist, ist im Einzelfall zu entscheiden. Das heisst: Das Gutachten soll Allgemeingültigkeit und Konkretisierung zum Nutzen aller Mitglieder vereinen.
Echte Agentur: Verstösse gegen das Verbot von Kartellabreden und Marktmachtmissbrauch sind nicht möglich, denn der Hersteller / Importeur darf als Träger aller Risiken auch alle Wettbewerbsparameter festlegen.
Unechte Agentur: Unzulässige Kartellabreden und Marktmachtmissbrauch sind möglich, denn der Händler agiert als selbständiges und unabhängiges Unternehmen – und trägt die Risiken.
Unechter Agent: Kartellabreden sind möglich und müssen vom Hersteller und Händler berücksichtigt werden.
Aber: Folgende Grundsätze müssen vom Hersteller berücksichtigt werden:
- Die markenspezifischen Investitionen müssen beim Wechsel ins Agenturmodell bzw. der Ausarbeitung der entsprechenden Vertragskonditionen berücksichtigt werden.
- Die Vertragskonditionen, die vom Hersteller vorgelegt werden, dürfen nicht derart unangemessen sein, dass faktisch von einer Geschäftsverweigerung ausgegangen werden muss.
- Der Hersteller muss alle Händler und deren markenspezifischen Investitionen nach den gleichen Grundsätzen entschädigen.
Konkret bergen insbesondere folgende Elemente bei Agenturverträgen kartellrechtliche Risiken hinsichtlich Wettbewerbsabreden:
- Preisbindung gegenüber dem unechten Agenten
- Provisionsgestaltung gegenüber dem unechten Agenten
Rechtliche Möglichkeiten bei missbräuchlichen Vorgehensweisen bzw. Vertragsklauseln von Herstellern / Importeuren:
Das Sekretariat der WEKO bietet die Möglichkeit an, konkrete Verträge zu prüfen und ihre Übereinstimmung mit dem Wettbewerbsrecht zu prüfen (Beratung).
Mit der Überprüfung eines Mustervertrages durch das Sekretariat der WEKO und ihrer Bestätigung, dass dieser kartellrechtskonform ist, wäre man den Herstellern in Verhandlungen einen Schritt voraus und könnte die Verhandlungsposition der Händler stärken.
Eine solches Ergebnis einer WEKO-Beratung könnte sodann auch auf europäischer Ebene eingebracht werden.
Die konkreten kartellrechtlichen Grenzen in Bezug auf die Marktentwicklungen beim Occasionshandel wären separat zu untersuchen (anderer Markt als der Neuwagenmarkt).
Im Zusammenhang mit dem Neuwagenvertrieb gelten die vorgetragenen Erkenntnisse; etwa betreffend Risikoverteilung (echter Agent darf keine Risiken im Zusammenhang mit Occasionen tragen) oder Preisfestsetzung (unechter Agent muss Eintauschpreis frei mit Kunden verhandeln können).
Speziell: Beim Dualvertrieb (z.B. Emil-Frey) ist insbesondere der Informationsaustausch zwischen Händlern und Importeur kritisch.
Allgemein: Grundsätzlich ist sodann besonderes Augenmerk auf die Gleichbehandlung unter den Händlern (keine Diskriminierung der unabhängigen Händler betr. Bonus etc.) zu legen.
Die Entwicklungen im Automobilmarkt, insbesondere der digitale Vertrieb und die Einführung von echten Agenturmodellen erfolgen zulasten des Sales-Geschäfts der Händler.
Im kundennahen After-Sales Geschäft liegen langfristig die grössten Chancen der Händler, weiterhin wichtiger Player in der Autobranche zu bleiben.
Die Händler haben seit 1.1.2022 die Möglichkeit, gestützt auf die relative Marktmacht Ersatzteile etc. zu den günstigeren Konditionen des Auslandes zu erhalten.
Der Ersatzteil-Bezug könnte hierbei auch gemeinschaftlich organisiert werden.
Ja: Grundsätzlich ist diese Vorgabe zulässig.
Aber: Folgende Grundsätze müssen vom Hersteller berücksichtigt werden:
- Die Provision (im Agenturmodell) ist so gering, das der unechte Agent den Verkauf der im Agenturmodell vertriebenen Modelle mit seiner Marge aus dem Vertragshändlergeschäft quersubventionieren muss.
- Die markenspezifischen Investitionen des unechten Agenten werden beim gemischten Vertrieb nicht angemessen berücksichtigt.
- Die Voraussetzungen zum Vertrieb der gesamten Modellpalette dürfen nicht strukturell gewisse unechte Agenten ohne sachlichen Grund bevorzugen und andere benachteiligen.